Die Kurzgeschichte: „Virtueller Meister“

Die Kurzgeschichte: „Virtueller Meister“

„Mist”, dachte Ben, als er die OGS Richtung Musikschule verließ. Wieder war eine Woche vergangen, und er hatte kaum Zeit zum Üben gefunden. Wie würde sein Lehrer wohl diesmal reagieren? Einzig sein Lieblingsstück, ein kleines Prelude von Bach, hatte er ein paar Mal angespielt. Aber er wusste, sein Lehrer hatte es schon allzu oft von ihm gehört.

„Hoffentlich geht das gut!”, ging es ihm durch den Kopf.

Als er den ersten Stock erreichte, stand die Tür zum Unterrichtsraum bereits weit offen. Ein tiefes Durchatmen, dann fasste er Mut und betrat den Raum.

Doch zu seiner Überraschung war niemand da.

War sein Lehrer nur kurz weg? Das kam gelegentlich vor. Ben setzte sich an den Flügel und ließ seinen Blick durch den leeren Raum schweifen. Die gewohnte Tasse, die sonst immer an der Seite auf dem Flügel stand, fehlte.

Stattdessen blitzte ihm im einfallenden Licht der Frühlingssonne das Glas einer Brille entgegen, die auf dem Flügel abgelegt war. Auf einem Zettel daneben stand Bens Name. Zögernd hob er die futuristisch anmutende Brille auf und betrachtete sie kurz, bevor er sie schließlich aufsetzte.

Ein Netz aus schimmernden Linien formte sich vor seinen Augen und löste sich in seiner Umgebung wieder auf.

“Gegrüßet seid Ihr, wertgeschätzter Schüler”, empfing ihn ein älterer Herr in altmodischem Gewand etwa zwei Meter hinter dem Flügel stehend mit einer Stimme, die Würde und Respekt vermittelte und die Jahrhunderte zu überdauern schien. “Eine wahre Freude ist es, Euch in guter Gesundheit und mit aufnahmefähigem Geiste vorzufinden! Nun, da wir uns den Freuden und der Disziplin der Musik widmen, ersuche ich Euch, uns ein Stück Eurer Wahl vorzutragen. Wählet, was Euer Herz bewegt und Eure technische Fertigkeit herausfordert. Nehmet Euch einen Augenblick der Sammlung, und wenn Ihr bereit seid, erfüllet den Raum mit der Schönheit Eurer Musik!”

Bens Herz pochte, seine Hände kribbelten. Doch die Verbindlichkeit in der Ansprache des fremden Besuchers veranlassten ihn, nun doch mit dem Vortrag des Preludes zu beginnen. Der Mann hörte aufmerksam zu, stimmte hin und wieder in die Melodien mit ein, gestikulierte und dirigierte bestimmt durch den musikalischen Vortrag hindurch. Seine Bewegungen waren von außergewöhnlicher Präzision, seine Worte erfüllt von Leidenschaft und dem Wissen eines wahren Meisters.

Und so lauschte Ben gebannt den Ausführungen des Mannes bis hin zur Geschichte über die Entstehung des Werks.

Schließlich setzte er erneut zum Vortrag an, doch diesmal ließ seine musikalische Vorstellungskraft die Finger mühelos über die Klaviatur tanzen. Eine Euphorie packte ihn, so hatte er das Stück von Bach zuvor noch nicht gespielt. Als er die letzten Takte erreichte, schaute er auf, aber anstelle des Unterrichtsraumes befand er sich in einem prächtigen barocken Saal, dessen Wände mit kunstvollen Gemälden und opulenten Ornamenten geschmückt waren. Ein Publikum elegant gekleideter Menschen füllte den Raum und applaudierte ihm begeistert zu.

“Ben?”, hinter ihm erklang eine bekannte Stimme. Ben drehte sich um und nahm schnell die Brille ab. Im Türrahmen des Unterrichtsraumes erblickte er die Leiterin der Musikschule. “Ah, schön, dass Du sie gefunden und ausprobiert hast! Herr Ludwigs ist leider krank, aber ich schätze, Du hattest heute besonderen Ersatz. Na, dann komm’ gut nach Hause.”

“Ähm…, ja, danke, Frau Bassmann!” Ben legte die Brille zurück auf den Flügel und schnappte sich seinen Rucksack. Auf dem Weg nach Hause spürte er eine neue Begeisterung in sich aufsteigen. Ihm flog das Prelude und die unerwartete Begegnung durch den Kopf und er grübelte, wer dieser alte Mann wohl war und ob Herr Ludwigs ihn vielleicht kannte.

Aber so, da war er sicher, hatte sein Lehrer ihn noch nie spielen gehört.