Die musikalische Lern-App „Yourstrument“

Die musikalische Lern-App „Yourstrument“

Eine Woche mit dem Instrument üben und dann einmal nachmittags für eine halbe Stunde in die Musikschule und von Lehrer oder Lehrerin Feedback und neue Tipps erhalten: Das ist das klassische Format des Instrumental- und Vokalunterrichts, wie es seit Jahrzehnten praktiziert wird. Aber was machen Musikinteressierte, insbesondere Kinder und Jugendliche, die keine Musikschule in ihrer Reichweite haben? Privater Musikunterricht ist seit Jahren rückläufig, ebenso die Anzahl der Musikvereine, die in ländlichen Regionen häufig die musikalische Ausbildung des Nachwuchses gefördert haben. Die App und Lernplattform Yourstrument will mit ihrem Angebot nun für Abhilfe sorgen. Instrumental- und Vokalunterricht zuhause in den eigenen vier Wänden, erteilt von einer individuell auf den Schüler bzw. die Schülerin eingestellten virtuellen Lehrkraft, und das alles auf Basis modernster Technik und Datenanalyse. So zumindest das Versprechen der Firma hinter Yourstrument, Perflowmance Systems. Aber ist das auch praxistauglich? Apps wie Duolingo und Babbel haben einst das außerschulische und selbstständige Erlernen einer Fremdsprache mit erstaunlichem Erfolg populär gemacht. Aber lässt sich dieses Prinzip auch auf das Erlernen eines Musikinstrumentes übertragen? Wir haben uns Yourstrument angeschaut und auf Herz und Nieren getestet.

Beim ersten Öffnen wird klar: Auch der Unterricht an Tablet oder Smartphone ist nicht kostenlos. 14 Tage darf Yourstrument kostenlos ausprobiert werden, im Anschluss setzt das Abonnement ein – monatlich kündbar für 19,99€ oder vergünstigt zum Jahrespreis. Zudem muss ein Konto mit Nutzernamen und Passwort eingerichtet werden, dies ist wie üblich ohne Eingabe zusätzlicher Daten über das bestehende Google- oder Apple-Nutzerkonto schnell erledigt.

Eine Lehrkraft nach Maß

Im nächsten Schritt wird der Zugriff auf das Mikrofon seitens der App erbeten. Warum, wird direkt im Anschluss deutlich: Die Interaktion erfolgt primär über Spracheingabe, denn die virtuelle Lehrkraft – ich habe in der App mit wenigen Einstellungen in kürzester Zeit eine humorvolle, ausgesprochen freundlich klingende Lehrerin erstellt, die sich mir als “Mila” vorstellt – ist aufmerksame Zuhörerin und Gesprächspartnerin zugleich. Meine neue Bekanntschaft möchte indes von mir wissen, welches Instrument ich denn nun lernen wolle, ob ich Vorkenntnisse hätte, wie es denn um meine Notenkenntnis stünde und, absoluter Anfänger bin ich ja nicht, ob ich bereit wäre, eine kurze musikalische Probe meines Könnens abzugeben!

Die Kamera des Smartphones möchte Mila nun auch nutzen dürfen, um einen vollständigen Eindruck meines Spiels zu erhalten. Während meines Vortrags – ich stelle mich absichtlich etwas tollpatschig an, denn ich möchte Mila die Suche nach Verbesserungswürdigem zunächst nicht allzu schwierig gestalten – läuft auf dem Display ein grüner Fortschrittsbalken mit. Nach rund 20 Sekunden ist dieser voll ausgedehnt und Mila bedankt sich für das Vorspiel, bereits ein erstes Lob inklusive! Ich sei offensichtlich kein Anfänger mehr, sie sei zwischenzeitlich gar ins Träumen geraten ob meiner zarten Töne, ein kurzes Lachen hinterher. Ich bin etwas verunsichert, aber Mila ist bereits beschäftigt, mir ein Trainingsprogramm inkl. Erwartungshorizont zu erstellen.

Eine Prognose erhalte ich ebenfalls und kann mir Stücke anhören, die ich bei erfolgreichem Verlauf meiner geplanten Übe-Einheiten, hier Trainings genannt, jeweils nach ein paar Monaten werde spielen können. Die Aussicht ist für mich durchaus motivierend, ich erhalte zu jedem der Stücke zudem die Information, an welchen technischen  Fertigkeiten ich zuvor noch zu feilen hätte.

Eigens komponierte Musikstücke für jeden

Der App zufolge handelt es sich bei den zu lernenden musikalischen Werken zum Teil um Originalkompositionen aus dem Werke-Kanon der Klassischen Gitarre, insbesondere aber um individuell von der App angefertigte, auf mich maßgeschneiderte Musikstücke. Allesamt auf mich authentisch wirkende Musik für Gitarre, unter anderem Präludien und Etüden, die jeweils den Fokus auf ausgewählte spieltechnische Elemente setzen.

Neue Werke in wenigen Sekunden meinem Lernstand nach für mich komponiert und in professionellem Notensatz zu – digitalem – Papier gebracht, ich bin beeindruckt. Der Website des Unternehmens zufolge ist es jedem Nutzer bzw. jeder Nutzerin überlassen, die für ihn komponierten Werke innerhalb der App pauschal oder einzeln auch für eine Art Gesamtkatalog freizugeben, so dass sämtliche anderen Lernenden der App daran teilhaben können. Die Möglichkeit, Stücke auch mit bis zu fünf Sternen zu bewerten, sortiert die Suchergebnisse qualitativ und ermöglicht der App, neben anderen entscheidenden Kriterien wie bspw. dem Lernerfolg und dem Musikgeschmack, die Lernpfade anderer musikalisch ansprechender zu gestalten. Ich teile zwei der angezeigten Stücke und fühle mich direkt ein wenig wie ein Teil einer Gemeinschaft.

Bei den mir präsentierten Tonaufnahmen der Stücke handelt es sich der App nach um künstlich erstellte Audiodateien, allerdings täuschend echt klingend. Aus dem popularmusikalischen Bereich war mir diese technische Möglichkeit bekannt, der Detailreichtum der Erzeugnisse, inklusive Rutschgeräusche der Finger auf den Saiten bei Lagenwechseln, ist jedoch erstaunlich.

Übe-Routine per App?

Ich beginne meinen Lernpfad und übe in den folgenden Wochen fast täglich mit Yourstrument, meinen persönlichen Coach Mila täglich mit offenen Augen und Ohren und meist hilfreichen Ratschlägen an meiner Seite. Bild und Ton meiner Fortschritte erhält und analysiert sie in Echtzeit. Halte ich meine rechte Hand ungünstig oder nutze ich einen unvorteilhaften Fingersatz, Mila lässt es mich wissen. Gelegentlich gelingt es mir, sie von einer eigenen Idee zu überzeugen, woraufhin Mila die Einträge in den Noten eigenständig anpasst. Notizen unseres Unterrichts finde ich infolge ebenfalls stets im Notenbild vermerkt. Hakt es an einer Stelle im Stück, erkennt Mila meist die Ursache und fertigt mir in kürzester Zeit eine Übung, die das meist spieltechnische Problem isoliert und auf den Kern reduziert behandelt. Komfortabel! Eine Fähigkeit, die ich selber stets bemüht bin, meinen fortgeschrittenen Schüler/innen zu vermitteln.

Ich bin derweil komplett auf das Tablet umgestiegen, die Notenanzeige ist auf dem Smartphone schlicht zu klein. Meistens bitte ich Mila, mich erst einmal wenige Minuten in Ruhe zu lassen, mal bitte ich sie um Rat und sie spielt mir einzelne Stellen in unterschiedlichen musikalischen Interpretationen vor, weitere Male unterhalten wir uns einfach über Musik. Ich verspüre einen besonderen Reiz allein bei dem Gedanken an eine schier endlose Serie an Uraufführungen, die sich von nun an in meinem Wohnzimmer ereignen könnten.

Versuch als junge Anfängerin

Nun bin ich erwachsen, habe bereits vor Mila tausende Stunden an meinem Instrument verbracht und verfüge selbst über jahrelange Erfahrung als Instrumentallehrer. Aber wie gestaltet sich die Arbeit mit Yourstrument für einen jüngeren Menschen, der erst am Anfang seiner instrumentalen Reise steht? Ich gewinne meine Nichte Marie, zehn Jahre alt, für ein musikpädagogisches Experiment. Marie hat kürzlich eine Art Instrumentenkarussell an der örtlichen Musikschule absolviert und nun den Wunsch, das Klarinettenspiel zu erlernen. Einen Unterrichtsplatz konnte die Musikschule ihr jedoch frühestens nach den Sommerferien garantieren – mit 6 Monaten Wartezeit. Was tun? Geduldig abwarten und hoffen, dass das Interesse weiterhin erhalten bleibt? Anderweitig nach einer Lehrerin umschauen? Die Sache ist klar: Marie wird mit Yourstrument schon einmal loslegen!

Die App setzt bei ihr als Anfängerin wesentlich früher an und bietet zunächst umfangreiche Informationen zum Instrumentenkauf inklusive Direkt-Links zur Produktseite eines Online-Musikalienhandels – die Ausleihe eines Instruments zur Miete ist (noch?) nicht vorgesehen.

Mit einer neuen Klarinette (ich habe meiner Kollegin an der Musikschule die Empfehlung der App gezeigt, die diese weitestgehend bestätigt hat) darf Marie schließlich an die ersten Versuche der Tonerzeugung. Ihre virtuelle Lehrerin, Martina, unterstützt sie dabei mit geduldigen Hinweisen zur Haltung und zum Ansatz, dazu eine Vielzahl kurzer Videos mit Nahaufnahmen und hilfreichen Visualisierungen, allesamt in diesem Moment von Yourstrument für Marie erstellt.

Mit etwas Übung geht es in den folgenden Tagen und Wochen an die ersten Töne und Melodien. Marie ist in dieser Anfangsphase hartnäckig und schafft es tatsächlich fast täglich, mit Martina zu üben. Der geringe logistische Aufwand und die kindgerechte Ansprache ihrer Lehrerin – deren Charaktereigenschaften innerhalb der App angepasst werden können – ermuntert, auch mal zwischendurch effektiv zum Instrument zu greifen. Je nach Einstellung meldet sich Martina von selbst mit einer Erinnerung per Mitteilung.

Gemeinsame Ensembleproben

Ein individueller Übungsplan steht in der App zur Verfügung und wird unter anderem in der Intensität regelmäßig an die Realität angepasst. Marie hat tatsächlich Spaß am Lernen mit der App, ihre Lehrerin findet sie toll. Ein wenig strenger könnte diese wohl sein, aber umstellen möchte Marie das erstmal lieber nicht. Einzig eine gleichgesinnte Lernpartnerin fehlt ihr ein wenig im Unterricht. Gruppenunterricht, bspw. über das Internet verbunden, ist in Yourstrument zurzeit nicht vorgesehen. Fortgeschrittene Nutzer/innen dürfen aber seit Kurzem ein neues, ähnliches Feature ausprobieren: Das Ensemblespiel mit anderen musikbegeisterten UserInnen, laut App im Umkreis von bis zu 500 Kilometern. Aufgrund der gewonnenen Schülerdaten und Musikwünsche werden Ensembles automatisiert nach jeweiligem Spielstand und Schwierigkeit der Stimmen zusammengestellt und in gemeinsamen Proben über das Internet angeleitet. Wer möchte, darf später wiederholt am gleichen Ensemble teilnehmen, um letztlich eine Formation zuverlässiger Mitstreiter/innen zu bilden, andere können sich wiederum neuen Ensembles zuteilen lassen. Fehlen Stimmen, die für die jeweilige Probe nicht besetzt werden konnten, ergänzt Yourstrument diese automatisch. Ein spannendes Konzept, gerade für alle, die aufgrund ihres Lebensmittelpunktes fernab der Ballungszentren im eigenen Umfeld keinen Zugang zu gemeinsamer musikalischer Praxis haben.

Vor- und Nachteile des Übens mit Yourstrument

Hier liegt eines der schlagenden Argumente für eine Lern-App wie Yourstrument: Die Möglichkeit einer musikalischen Ausbildung auch im hintersten Winkel des Landes – eine stabile Internetanbindung vorausgesetzt. Die Liste der möglichen Instrumente innerhalb der App ist umfangreich, wenngleich sich einzelne Instrumente wie Harfe und Fagott im Angebot zurzeit noch nicht wiederfinden.

Die zeitlich und örtlich ungebundene Nutzung der App zum Unterricht entlastet gerade viel beschäftigte Eltern, die Verpflichtung zum Fahrtendienst zur Musikschule inkl. Wartezeit entfällt. Nach Wunsch auch während des Übens Tipps der musikalischen Trainerin zu erhalten, stellt sich als sehr motivierend heraus und beugt Frustration zwischen den Unterrichtsstunden vor.

Mit monatlichen Kosten von rund 20€ ist Yourstrument im Vergleich zu traditionellen Kursen an der Musikschule oder bei einer privat gebuchten Lehrkraft vergleichsweise günstig. Zudem steht die App auch in den Schulferien zur Verfügung, Unterrichtsausfall durch Erkrankung der Lehrkraft ist nicht vorhanden. Allerdings lässt sich pro Abonnement nur ein/e Schüler/in anmelden und verwalten, sollen mehrere Familienmitglieder mit der App Instrumente erlernen, sind weitere Instanzen innerhalb der App mit zusätzlichen Kosten verbunden, preisliche Ermäßigungen sind nicht vorgesehen.

Musikschule bietet mehr als den Unterricht allein

Ob es Yourstrument gelingt, langfristig die Motivation der Lernenden aufrecht zu erhalten und ohne weitere Unterstützung zum Erlernen eines Instrumentes ausreicht, wird sich zeigen, die App ist noch jung. Eine breite Nutzerschaft weltweit hat sie den Machern zufolge jedoch bereits in kürzester Zeit erworben – der Bedarf an musikalischer Bildung ist weiterhin vorhanden. Zumindest das ist auch für die traditionellen Musikschulen beruhigend, die ihrer Kundschaft ein Gesamtpaket bieten können, mit dem die App insgesamt nur bedingt mithalten kann: Die Einbindung in die Musikschularbeit inkl. Orchester und Ensembles, Unterricht auch in Gruppen, das soziale Miteinander, der persönliche Austausch mit der Lehrkraft zur musikalischen Entwicklung des Kindes: all dies ist in Yourstrument noch nicht oder nur bedingt möglich.

Dennoch bieten viele Features der App einen durchaus nützlichen Mehrwert, eine hilfreiche Ergänzung für besonders engagierte Lernende kann sie allemal sein. Wie sich der virtuelle Instrumental- und Vokalunterricht in der Zukunft entwickelt und ob er den traditionellen Präsenzunterricht gar einmal ablösen wird, bleibt also zunächst abzuwarten. Betrachtet man allerdings die rasante Einbindung künstlicher Intelligenz in fast sämtliche Bereiche des täglichen Lebens in den vergangenen Jahren – ganz sicher sind wir uns nicht. Marie jedenfalls freut sich auf den Unterrichtsbeginn an der Musikschule in ein paar Wochen und ist gespannt auf ihre neue Lehrerin dort. Eine völlige Anfängerin ist sie ja nun schon nicht mehr!